Donnerstag, 28. Dezember 2017

youtube stream: Claude Lanzmann - Shoah

Über neun Stunden lang sass ich da (auf meiner angestammten Video Couch) und sah mir Shoah an. Nach dem Abspann sass ich noch ein bisschen länger dort auf meiner Video Couch und starrte einfach nur in die Luft. Ich versuchte, meine Emotionen zu fassen. Ich hatte eine Erinnerung an das schrecklichste Kapitel der Menschheitsgeschichte gesehen und gleichzeitig einen Film, der mit voller Leidenschaft JA! zum Leben sagt! Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Shoah zu fassen? Wie sollen wir dieses Werk durchdringen? 550 Minuten lang ertragen wir Qualen und Schmerz im Angesicht des Holocausts. Welcher Film trägt sein Ansinnen so nobel vor wie Shoah? Shoah ist hebräisch und bedeutet so viel wie Chaos. Eine Umschreibung des Holocausts. Shoah ist eine Doku und bietet trotzdem kein Bildmaterial aus den 40er Jahren. Es gibt keine Materialien aus den Nachrichten oder Archiven. Es gibt auch keine Interviews aus der Zeit. Es wird überhaupt nicht auf Bild-Materialien der Täter zurückgegriffen. Sämtliche Bilder filmte Regisseur Claude Lanzmann während der ersten Hälfte der 80er Jahre selbst. Überraschenderweise spürt er die damaligen Opfer auf. Menschen, die dabei waren, die sahen und hörten, was damals geschah. Eine kleine Handvoll der Protagonisten sind Holocaust-Überlebende. Die Restlichen sind Deutsche oder Polen, die in den Konzentrationslagern arbeiteten. Sie reden und reden. Shoah stellt eine Flut, ja eine Lawine von Wörtern dar. Lanzmann zeigt die Gesichter der Zeitzeugen sowie die Orte, an denen alles geschah. Es sind die Routen der Züge, die Millionen von Juden, Homosexueller, Gypsies (...) durch Polen transportierten, an die Orte ihres Todes. Ruhig, ganz still, gleitet die Kamera über Weideflächen. Dann erfahren wir, dass sich darunter Massengräber befinden. Lanzmann ist ein geduldiger Fragensteller. Er interessiert sich vor allem für die Details. Seine Fragen sind offen gehalten. Eine der berührendsten Sequenzen ist die, da Lanzmann Abraham Bombain in Tel Aviv interviewt. Bombain ist Frisör. Im Konzentrationslager rasierte er die Schädel der jüdischen Frauen, die anschliessend vernichtet wurden. Wie kann das Haar einer Frau wertvoller sein als sie selbst? Lanzmann fragt: Du hast ihre Haare geschnitten. Mit einer Schere? Gab es keine Spiegel? Du sagtest, es wären 16 Frisöre gewesen. Wie viele Frauen befanden sich gleichzeitig im Raum? Während Bombain antwortet, sitzt vor ihm ein Kunde, den er frisiert. Nach einer Weile bittet Bombain, die Fragen einzustellen. Er kann nicht mehr antworten. Es ist zu grauenhaft. Lanzmann insistiert: "Wir müssen das tun. Du weisst das". Bombain antwortet: "Ich sehe mich ausserstande". Lanzmann wiederum: "Es muss sein. Es tut mir sehr leid". Lanzmann ist grausam und äusserst korrekt. Er ist sich dessen bewusst, dass bald alle Überlebenden des Holocaust gestorben sein werden und er diesen Bericht vorher fertigstellen muss. Manchmal agiert Lanzmann sogar hinterhältig. Für die Interviews der Täter nutzt er eine versteckte Kamera, die ihre Gesichter einfängt. Einige der Nazis bitten darum, dass diese Aufzeichnungen privat bleiben. Sie bleiben es nicht. Die Interviews mit den Deutschen werden unterbrochen durch Bilder der Schienen, auf denen die Züge in die Konzentrationslager rollten. Wir haben Zeit, unseren Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie eine Meditation. Shoah ist ein langer Film, aber kein langsamer. Ich bemerkte dieses eigentümliche Phänomen, wie die Wörter Bilder kreierten. Vorstellungen. Wir hören die Erzählung von Filip Muller, einem Juden, der am Eingang der Gaskammern arbeitete. Er erinnert sich, wie das Gas langsam eingelassen wurde. Dann wird es schwarz. Das Licht wird ausgeschaltet. In den Gaskammern war es dunkel. Die Opfer spürten, wie etwas von unten kam, versuchten, nach oben zu klettern. Sie dachten, dort oben wäre noch etwas Luft zum Atmen. Lanzmann fragt, was geschah, nachdem die Türen wieder geöffnet wurden? Die Toten fielen heraus. Steif, wie Blöcke aus Stein. Muller beschreibt etwas, was weder er - noch andere - je sahen. Es war schliesslich dunkel. Bis dahin hatte ich mir nie eine rechte Vorstellung der Gaskammern machen können. Muller nahm mich nun mit hinein. Genau das vermag Shoah - und genau das ist die grosse Leistung dieses Films! Nach neun Stunden ist der Holocaust nicht mehr bloss "Subjekt" - ein Kapitel der Geschichte. Er wird zu unserer direkten Umwelt. Er umgibt uns. Ein Lockführer der Route nach Treblinka wird gefragt, ob er die Schreie der Opfer in den Wagen hinter ihm hören konnte. Natürlich. Die Wagons befanden sich direkt hinter der Lokomotive. Man konnte alles ganz genau hören. Lanzmann will wissen, ob man sich daran gewöhnt? Der Lockführer verneint. Hinter ihm waren Menschen. Menschen, so wie er selbst. Die Deutschen gaben ihm Wodka zu trinken. Ohne Wodka hätte er es nicht ausgehalten. Die merkwürdigsten Passagen in Shoah stellen die Interviews der Verantwortlichen dar. Keiner von ihnen, die organisierten, dass die "Endlösung" schnell und unauffällig vonstatten ging, scheinen eine Vorstellung des Grauens zu haben. Mag man ihnen glauben, wenn sie behaupten, niemanden persönlich getötet zu haben? Sie alle waren nur ein Glied in einer langen Befehlskette. Sie trugen ihren kleinen Teil zum grossen Ganzen bei. Was fühlte der Mann, der die Züge der Juden koordinierte. Hat er je selbst einen Zug gesehen? "Nein, niemals"; antwortet der Mann. "Es gab soviel Arbeit. Ich verliess nie meinen Schreibtisch. Wir arbeiteten Tag und Nacht". Ein anderer Mann lebte nur 150 Meter von der Kirche entfernt, vor der die Juden zusammen getrieben wurden. Hat er je in einen Transporter hinein geschaut? "Nein, niemals". Es sind die Stimmen von Menschen, die sahen und hörten, was geschah. Sie wussten, dass der Holocaust existiert. Ich bemerkte meine eigene Tendenz, eine Distanz aufzubauen zwischen mir selbst und dem Geschehen dort im Film. Schliesslich liegt das alles lang zurück. Die Verbrechen in Shoah aber wurden von Menschen wie uns gegen Menschen wie uns verübt. Es macht keinen Unterschied, ob das in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts war. Dann ist da noch diese viel tiefere Botschaft des Films. Es ist Filip Muller, der erzählt, wie er die Opfer auf ihrem letzten Gang ins Gas beobachtete. Auf einmal begannen zwei von ihnen zu singen: The Hatikvah und die tschechische Nationalhymne. Sie bestätigten es: Wir sind Juden! Wir sind Tschechien! Sie verneinten Hitler. In diesem Moment fühlte Muller, wie sein eigenes Leben bedeutungslos wurde. Wozu sollte man noch weiterleben? Er entschloss, sich, ihnen in die Gaskammer zu folgen. Seinen Leuten! Lanzmann hakt nach: "Du warst bereits in der Gaskammer?" - "Ja". Doch ein paar Frauen hielten ihn auf. Sie fragten, ob er sterben wollte? Es wäre sinnlos. Er würde ihnen damit nicht ihr Leben zurückgeben. Sie forderten von Muller, lebend von ihr fortzukommen. Als Zeuge. Um vom Grauen zu berichten. Das ist die Botschaft von Shoah! Ein Film, der weder Dokumentation, noch Politik oder Propaganda ist. Shoah ist ein Zeugnis. Lanzmann tut das, was uns Menschen vom Tier unterscheidet: Die Fähigkeit, ein Ereignis zu behalten und an die nächste Generation weiterzugeben. In Deutschland gibt es derzeit die Debatte, diese Erinnerung um "180 Grad" zu vergessen. Auf dass der Mensch erneut alles Humanistische negiert.

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