Filmkunstbar Fitzcarraldo im Tagesspiegel
Videotheken in der Krise Warten aufs Revival
Zwischen Ausbeutung und innovativen Geschäftsideen: Wie Videotheken auf
den Boom von Amazon, Netflix & Co. reagieren. Sophie Krause. Im
„Fitzcarraldo“ in der Reichenberger Straße trifft man einen gut
gelaunten Martin Schuffenhauer. Der Besitzer der Kreuzberger Videothek
hat gerade seine Bar geöffnet, es ist 17 Uhr. Man kann schlechtere
Arbeitszeiten haben als er. Die Bar im Erdgeschoss, bestehend aus
zusammengewürfelten Filmrequisiten, Kunstblumen und Lametta, vergleicht
er mit einem „explodierten Weihnachtsgeschenk“. Im Keller stehen mehr
als 10 000 DVDs, akribisch nach Genre und Herkunftsland sortiert, in
handbeschrifteten Regalen. Seit 2012 ist das „Fitzcarraldo“, zuvor als
„Videothek Roderich“ bekannt, eine Filmkunstbar. Schuffenhauers
Strategie: „Die Bar soll das Geld verdienen, aber ich investiere immer
weiter in Filme und kaufe sogar noch mehr dazu.“ Die Filme sind sein
Hobby, die Bar sein Broterwerb.
Gerade laufe der Verleih gut, erklärt er selbstgewiss. Den Kunden
dämmere, dass die Auswahl von Streaming-Anbietern wie Netflix und Amazon
sehr begrenzt sei, glaubt Schuffenhauer. Viele Arthouse-Filme und
Klassiker würden dort schlicht fehlen. „Woher willst du deine Filme
bekommen, wenn du gezielt etwas suchst?“ Auch auf illegalen
Streaming-Seiten, die Filme kostenlos anbieten, gäbe es nicht alle
Titel. Dennoch seien offenbar viele Kunden bereit, sich Filme mit
schlechter Bildqualität sogar auf dem Smartphone anzusehen.
Weil die Kunden ausbleiben, stehen viele Videothekare vor der Wahl, sich
selbst auszubeuten oder einen Nebenerwerb zu finden, der ihre Miete
sichert. Ein Patentrezept sucht man vergebens. Die Kult-Videothek
„Traumathek“ in Köln etwa rettete sich durch Patenschaften und Spenden.
Doch Geschäftsmodelle wie die „Filmkunstbar“ gefallen nicht jedem,
gleichen sie doch einem Verrat an der Zunft.
Schuffenhauer meint: „Ein Videothekar hat ja etwas Soziopathisches. Der
kann nicht mit Menschen umgehen, guckt Filme und isst nachmittags Kekse.
Ein Barkeeper dagegen muss gesellig sein.“ Im „Fitzcarraldo“ ist er der
einzige Videothekar, der die Kunden beraten kann. Seine Angestellten
sind Barkeeper.
Wenn er einen Film nicht hat, schickt Schuffenhauer seine Kunden ins
„Videodrom“, Berlins älteste Programmvideothek. Dass deren Inhaber
Karsten Rodemann vom Getränkemixen und Onlineverleih nichts hält, ist in
der Branche weitgehend bekannt. Das Videodrom lebt von seinem Ruf, von
Rodemanns Expertise und seiner immensen Auswahl aus über 30 000 Filmen.
DVD-Bestand auf 2 000 Titel minimiert
Seit Jahren singen Journalisten den Abgesang der Videotheken. Anne
Petersdorff, Inhaberin der Lichtenberger Kiez-Videothek „Madeleine und
der Seemann“, möchte deshalb erst nicht mit der Presse sprechen,
schließlich sei zum Thema Videothekensterben alles gesagt. Ohnehin sei
die „Madeleine“ keine richtige Videothek mehr, sondern ein Café mit
Softeis, Kinderspielecke und gelegentlichen Filmvorführungen, sagt sie.
Ihren DVD-Bestand hat Petersdorff auf 2 000 Titel minimiert, nur noch
Kinderfilme, die nach wie vor gut laufen, und ausgewählte Neuheiten
verleiht sie.
Vor einem halben Jahr wollte sie die „Madeleine“ schließen, doch die
Nachbarschaft stand hinter ihr. Die Umwandlung in ein Café bedeutet für
Petersdorff die Aufgabe des Traums, vom unhaltbaren Filmverleih leben zu
können, und den Neuanfang als Gastronomin mit kleinem, gepflegtem
Filmbestand. Sofas und Tischchen ersetzen nun die Filmregale, ein
Konzept, das man so ähnlich auch aus einigen Buchläden kennt.
Angesichts der Konkurrenz im Netz resigniert Petersdorff. Gelegentlich
seien Kunden gekommen und hätten ein DVD-Regal abfotografiert, um die
Filme dann vermutlich zu Hause zu streamen. „Dagegen kann ich nichts
machen.“ Ähnlich pragmatisch sieht es Franziska Tettschlag, Inhaberin
der Videothek „Filmfreund“ auf der gegenüberliegenden Seite der
S-Bahn-Trasse. Viele Kunden wüssten gar nicht, dass ihr Eckladen in der
Corinthstraße eine Videothek sei. Von außen sieht der „Filmfreund“ aus
wie ein Spätkauf mit Internetcafé.
Die gelernte Kostümschneiderin hält sich mit einer integrierten
Postfiliale, Getränkeverkäufen und Lotto über Wasser. Als Späti versteht
sie ihren Laden nicht, die Getränke und Snacks wurden eher unfreiwillig
vom Videotheken- zum Späti-Inventar. Früher, das heißt zu DDR-Zeiten
und nach der Wende, verkauften Tettschlag und ihr Mann Schallplatten.
Tettschlag war dabei, als alle wichtigen Speichermedien ausstarben. In
einem Durchgangszimmer und im hinteren Raum stehen DVD-Regale. Viele
Filme hat Tettschlag verkauft, an einigen Titeln hängt sie.
Etwa 50 bis 100 Filme verleiht Tettschlag monatlich, rund 3000 Filme
zählen noch zu ihrem Bestand. „Ich glaube nicht, dass man den Verfall
der Videotheken aufhalten kann“, sagt sie. Nur wer seinen Kunden
zusätzliche Angebote schaffe, könne überleben. Auch in anderen Städten
haben sich Videotheken ihre langen Öffnungszeiten zunutze gemacht und
ihre Läden zum Spätkauf erweitert. Das funktioniert: Immer wieder
betreten Kunden den „Filmfreund“, kaufen Getränke oder spielen Lotto.
In der Branche glauben viele an ein Revival der Videotheken. Doch
Experten warnen vor voreiligen Schlüssen: „Die Prognose, dass
Videotheken zu den Liebhaber-Plattenläden der nächsten Jahre werden, ist
mit Vorsicht zu genießen“, sagt Tobias Haupts, Filmwissenschaftler an
der Freien Universität Berlin. „Das betrifft vielleicht sogenannte
Kult-Videotheken wie die ,Traumathek‘, das ,Videodrom‘ und ähnliche. Das
ist aber kein Versprechen für die Zukunft.“ Krisensituationen habe es
schon in den 80er und 90er Jahren gegeben, so Haupts, auch Ende der
Nullerjahre seien die Videotheken totgesagt worden: „Jetzt haben wir
2017, und es sieht zwar schlecht aus, aber es gibt sie noch.“ Auch
Beiprogramme wie Snackangebote oder Cafés hätten Videotheken schon immer
geführt, erinnert Haupts, „aber ob das die Videotheken retten wird,
weiß ich nicht.“
Franziska Tettschlag ist mit Prognosen vorsichtig. Sie erkennt noch
keine DVD-Nostalgie. „Fitzcarraldo“-Chef Schuffenhauer hingegen ist sich
sicher: „Irgendwann werden die Leute sagen: ‚Da gab es doch dieses
tolle Medium, diese silbernen Scheiben, und Videotheken waren doch total
nett. Man wurde beraten und es war keine Maschine!‘“ Vielleicht gibt es
das „Fitzcarraldo“, den „Filmfreund“ & Co. dann immer noch. -
Vielleicht? Nein. Mit Sicherheit, sage ich.
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