Samstag, 23. September 2017


youtube stream: Jean-Luc Godard - Vivre Sa Vie

So gern wäre ich manchmal in den 60ern aufgewachsen! Ich hätte im Regen vor einem Programmkino für 30 Pfennig angestanden und auf die nächste Vorstellung von Vivre Sa Vie gewartet. Vielleicht hätte ich den Original Godard auf einem Filmfestival sehen können! Wie er solche Dinge sagt: "Das Kino, das ist nicht die Station. Es ist der Zug..." Oder war es umgekehrt? Egal. Ich hätte einfach zugehört und genickt, so wie die Anderen auch. Jeder liebte seine Filme! So wie wir alle in den 90ern über "Tarantino" diskutierten, hätten wir über Godard geredet. Wie er die Kamera um 360 Grad dreht, auf einmal anhält und alles zurückfährt! Einfach, um uns zu beweisen, dass ers kann! Heute wird an seinem Denkmal gekratzt. War er etwa überbewertet? Kunstfilme sind schliesslich "out" - oder nicht? Nun, ich kann euch mal die Verleihzahlen von unserer Videothek durchgeben: Godard, Godard und nochmal Godard! Vor allem sein Frühwerk wird geliehen und nochmal geliehen! Vivre Sa Vie nimmt dabei den ersten Rang ein. Heute ist es für mich wieder so weit. Vivre Sa Vie muss rein in meinen DVD Spieler. Nach fünf Minuten ists um mich geschehen. Ich bewege mich nicht. Ich starre auf den Monitur. Bis es vorbei ist. Ich meine, auch erst nach dem Abspann wieder richtig durchzuatmen! Ein ganz toller Film! Einer der tollsten überhaupt! Erzählt wird die Geschichte von Nana (Anna Karina). Anna Karina war damals Godards Frau. Fast durchsichtig wirkt sie mit ihrem Porzellan Gesicht, ihren vorsichtig blickenden Augen, ihrem schwarzen Haar, das wie ein Helm um den Kopf anliegt und ihren schicken Kleidern. Wir wissen ja, die Nouvelle Vague braucht schöne Frauen und coole Typen, die ununterbrochen rauchen! Auch Anna Karina raucht immer. Sie verkörpert eine junge Pariserin. Der Vorspann zeigt ihr Gesicht erst seitlich, dann frontal. Von Anfang bis zum Ende wird der Film sie beobachten, versuchen, ihr Gesicht zu lesen. Auf, dass wir nichts verpassen! Keine einzige Regung! Dazu die Musik von Michel Legrand, die plötzlich stoppt und dann mit dem nächsten Motiv fortfährt. So als wollte die Musik uns Anna Karina erklären. Aber sie scheitert und beginnt von vorn. Im nächsten Bild sehen wir sie, Nana, von hinten. Sie spricht mit Paul. Wir erfahren, dass Paul ihr Mann ist. Sie verliess ihn und das gemeinsame Kind. Nun hat sie vage Vorstellungen, was als nächstes kommt. Vielleicht geht sie ins Kino. Godards bevorzugter Kameramann Raoul Coutard zeigt erst Nana, dann Paul. Sie zoomt vor und zurück, ist auf Nanas Hinterkopf gerichtet, dann leuchten ihre Gesichter im Spiegel. Unterteilt wird Vivre Sa Vie in dreizehn solcher Bilder, die altmodischen Romanen entsprechen. Nana versucht, den Schlüssel zu ihrer Wohnung aus dem Büro des Concierges zu klauen, wird aber erwischt und abgeführt auf die Strasse. Sie hat kein Zuhause und kein Geld. Ist das ihr Fehler oder ihr Schicksal? Warum verliess sie Paul? Hegt sie keine Gefühle für ihr Kind? Nana geht ins Kino, wo Dreyers "The Passion Of Joan Of Arc" läuft. Natürlich. Auch in Dreyers Film geht es um eine Frau, die von Männern verurteilt wird. Sie trifft einen Typen in einer Bar, der Fotos von ihr schiessen will. Es gibt einen Streit um einen 1000 Franc Schein. Die Polizei kommt. Dann schlägt Nana den Weg in die Strasse der Huren ein und lässt sich von einem Freier kaufen. Küssen aber darf er sie nicht. Die Kamera bleibt ihr immer auf den Fersen. In einem Plattenladen diskutiert Nana mit einem Kunden. Die Kamera wendet sich plötzlich ab und blickt aus dem Fenster. Dann trifft Nana Raoul, ihren Zuhälter. Ein Lächeln wünscht er sich von ihr. Die Kamera verharrt erst auf ihr, dann auf ihm. Nana verweigert das Lächeln; die Kamera wendet sich ab von Raoul und hält wiederum auf Nana. Das ist mehr als nur "Style". Die Kamera zeigt uns, wie Menschen andere Menschen anschauen. Sie macht uns das bewusst. Dann das berühmteste Bild: Nana raucht, während ein Kunde sie umarmt. Sie blickt über seine Schulter. Ihre Augen sind ganz leer. Später wird sie von Raoul geküsst. Sie atmet den Rauch ihrer letzten Zigarette aus. Was fängt man schon an in diesem Paris? Man hängt herum in Bars, wünscht sich, mehr Geld zu haben. Prostitution wird in Frankreich übrigens "La Vie" genannt, was dem Titel seine Bedeutung verleiht. Schliesslich mündet Vivre Sa Vie in einem Thriller - so wie wir das aus Godards erstem grossen Film kennen. Was aber macht die Kamera? Sie richtet sich auf den Boden. Sie blickt einfach weg. Sie ignoriert das Ende des eigenen Films. Wer erinnert sich noch an das Gespräch Nanas mit dem Philosophen im Cafe? Er erzählt ihr die Geschichte eines Mannes, der davon rennt vor der Gefahr. Er rennt und rennt, bis er ins Grübeln kommt und anhält. Genau das tötet ihn. Der Mann denkt zum ersten Mal nach und stirbt. Und Nana? Wird sie sterben, sobald sie zum ersten Mal innehält? Voller Neugier folgt sie den Ausführungen des alten Mannes. Wir erleben ihre neugierigen, grossen Augen, die bis dahin jedes Gefühl zurückwiesen! Zuvor erzählte Paul die Geschichte des Huhns. Nimmt man die äussere Hülle des Huhns, behält man den Innenteil. Nana ist nichts als äussere Hülle(...)

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