Dienstag, 19. September 2017

youtube stream: Alfred Hitchcock - Rear Window

 Der Held in Hitchcocks Rear Window ist gefangen. Er sitzt im Rollstuhl mit gebrochenem Bein. - Und wir sind auch gefangen - in der Perspektive des Helden. Tag und Nacht verbringt er damit, schamlos die Geheimnisse seiner Nachbarn auszuspionieren. Und wir teilen seine Obsession. Natürlich wissen wir, dass das falsch ist. Doch sind wir nicht alle Voyeure; wir, die wir gerne Filme ansehen? Der Mann auf der Leinwand folgt also derselben Tätigkeit wie wir im Publikum: Durch eine Linse betrachtet er das Privatleben von Fremden. Der Mann ist ein bekannter Fotograf namens L.B. Jeffries. Seine Verlobte nennt ihn schlicht "Jeff". Verkörpert wird er von James Stewart. Stewart spielt im Gipsverband, der bis zu seiner Hüfte reicht. Nie verlässt er sein Apartment und empfängt ausschliesslich zwei Besucher. Seine Pflegerin Stella (Thelma Ritter), die ihm Ärger vorhersagt: "The New York State sentence for a Peeping Tom is six months in the workhouse". Desweiteren seine Verlobte Lisa Fremont (Grace Kelly), ein elegantes Modell, die auch Kleider entwirft. Der Blick durch Jeffs Fenster offenbart die Sicht in zahlreiche weitere Apartments. Langsam ist Jeff regelrecht vertraut geworden mit dem Leben seiner Nachbarn, so lange beobachtet er sie schon. Er folgt den einsamen Abendessen von Miss Lonelyhearts, die für imaginäre Besucher den Tisch deckt. Oder Miss Torso, die echte Parties schmeisst. Es gibt das Paar, deren Hund in einem Korb in den Garten hinabgelassen wird. Und Thorvald (Raymond Burr), dessen Frau den ganzen Tag im Bett verbringt. Eines Tages scheint sie einfach verschwunden zu sein; gleichzeitig entdeckt Jeff Anhaltspunkte wie einen Koffer. Jeff verdächtigt Thorvald, seine Frau ermordet zu haben... Hitchcock zeigt all das mit einer radikalen Methode. Jeff beobachtet Thorvald durch das Vergrösserungsglas seiner Kamera. Er folgt jedem Schritt des Verdächtigen mit seiner Linse. Wir sehen dabei immer nur das, was auch Jeff sieht. Jeff sitzt in seinem Rollstuhl, verfolgt das Geschehen durch seine Linse, im Grunde genommen fast so wie in einem Film. Er zieht seine Schlüsse ganz ohne Worte, anhand der Bilder - und wir mit ihm. Rear Window gleicht dem Experiment, diverse "Shots" zu sammeln, die Jeff so zusammensetzt, bis er an einen Mord glaubt. Rear Window spielt mit der Faszination des Voyeurismus, dass Menschen observiert werden, die nichts davon ahnen. Jeffs Leidenschaft wird wiederum von seiner kühlen blonden Freundin kommentiert. Wohl bemerkt; Grace Kelly als "Hitchcock Blondine" hat nicht die Funktion eines Playmates. Sie, Lisa, ist Teil der Lösung dieses Puzzles. Lisa liebt Jeff tief und innig, der aber, weist sie von sich. Wie könnte es ein Model mit ihm in der Wildnis aushalten, während er fotografiert? Oder hat Jeff einfach nur Angst vor Lisa? Immerhin symbolisiert sein Gipsbein, dass Jeff beeinträchtigt ist. Hitchcock liebt solche männlichen Charaktere; wir erinnern uns an Scotty, der unter Höhenangst litt... Lisa bedient Jeff von vorn bis hinten. Der aber liebt es vor allem, seine Nachbarn mit der Kamera zu beobachten. Seine gesamte Aufmerksamkeit verwendet er darauf, Bilder zusammen zu setzen, so dass sie einen Fall ergeben. Er ist von dem besessen, was er aus der Ferne observiert, nicht davon, was er in seinen Armen halten könnte. Wir müssen uns die Wahl von James Stewart für diese Rolle vor dem Hintergrund vorstellen, dass Stewart während der 30er Jahre als romantischer Liebhaber berühmt wurde. Hitchcock modelliert nun Stewarts dunkle Seite - und die war für das Publikum der 50er ganz neu! Jeff ist kein Moralist und auch kein Detektiv. Er liebt es, andere zu beobachten. Die spannendsten Momente sind die, in denen es Jeff verwehrt ist, selbst zu agieren. Er ist durch seinen Gips schlicht nicht in der Lage, einzugreifen. Lisa ans seiner Seite wirkt cool, doch in wenigen Momenten spüren wir, wie verletzt sie ist. Sie liebt schöne Kleider und Champagner; Dinge, denen Jeff keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Lisa beugt sich über ihn, um ihn zu küssen, aber Jeff scheint überhaupt nicht empfänglich für Lisas Schönheit. Schliesslich müssen wir erleben, wie sich Lisa anstelle von Jeff in Gefahr begibt. Was auch immer geschieht, er ist in der Distanz ausserstande, sie zu beschützen. Er kann sich nicht bewegen. Er (und wir!) sehen die Gefahr voraus und können nicht eingreifen. Unfähig, zu handeln. Hitchcock hat einmal den Unterschied zwischen "Surprise" und "Suspense" beschrieben: Explodiert eine Bombe unverhofft unter dem Tisch, nennt er das "Surprise". In dem Moment aber, da wir wissen, dass sich eine Bombe unter dem Tisch befindet, nennt er das "Suspense". "Surprise" kann uns einen kurzen Moment des Schreckens verschaffen. Rear Window aber bereitet die "Suspense" durch den gesamten Film hindurch vor. Momente werden gesammelt, die im Finale den Thriller ergeben. Eine Methode, die 1954 als Unterhaltung konzipiert worden war und von uns heute als "Kunst" betrachtet wird.,

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