youtube stream: Alfred Hitchcock - Rear Window
Der
Held in Hitchcocks Rear Window ist gefangen. Er sitzt im Rollstuhl mit
gebrochenem Bein. - Und wir sind auch gefangen - in der Perspektive des
Helden. Tag und Nacht verbringt er damit, schamlos die Geheimnisse
seiner Nachbarn auszuspionieren. Und wir teilen seine Obsession.
Natürlich wissen wir, dass das falsch ist. Doch sind wir nicht alle
Voyeure; wir, die wir gerne Filme ansehen? Der Mann auf der Leinwand
folgt also derselben Tätigkeit wie wir im Publikum: Durch eine Linse
betrachtet er das Privatleben von Fremden. Der Mann ist ein bekannter
Fotograf namens L.B. Jeffries. Seine Verlobte nennt ihn schlicht "Jeff".
Verkörpert wird er von James Stewart. Stewart spielt im Gipsverband,
der bis zu seiner Hüfte reicht. Nie verlässt er sein Apartment und
empfängt ausschliesslich zwei Besucher. Seine Pflegerin Stella (Thelma
Ritter), die ihm Ärger vorhersagt: "The New York State sentence for a
Peeping Tom is six months in the workhouse". Desweiteren seine Verlobte
Lisa Fremont (Grace Kelly), ein elegantes Modell, die auch Kleider
entwirft. Der Blick durch Jeffs Fenster offenbart die Sicht in
zahlreiche weitere Apartments. Langsam ist Jeff regelrecht vertraut
geworden mit dem Leben seiner Nachbarn, so lange beobachtet er sie
schon. Er folgt den einsamen Abendessen von Miss Lonelyhearts, die für
imaginäre Besucher den Tisch deckt. Oder Miss Torso, die echte Parties
schmeisst. Es gibt das Paar, deren Hund in einem Korb in den Garten
hinabgelassen wird. Und Thorvald (Raymond Burr), dessen Frau den ganzen
Tag im Bett verbringt. Eines Tages scheint sie einfach verschwunden zu
sein; gleichzeitig entdeckt Jeff Anhaltspunkte wie einen Koffer. Jeff
verdächtigt Thorvald, seine Frau ermordet zu haben... Hitchcock zeigt
all das mit einer radikalen Methode. Jeff beobachtet Thorvald durch das
Vergrösserungsglas seiner Kamera. Er folgt jedem Schritt des
Verdächtigen mit seiner Linse. Wir sehen dabei immer nur das, was auch
Jeff sieht. Jeff sitzt in seinem Rollstuhl, verfolgt das Geschehen durch
seine Linse, im Grunde genommen fast so wie in einem Film. Er zieht
seine Schlüsse ganz ohne Worte, anhand der Bilder - und wir mit ihm.
Rear Window gleicht dem Experiment, diverse "Shots" zu sammeln, die Jeff
so zusammensetzt, bis er an einen Mord glaubt. Rear Window spielt mit
der Faszination des Voyeurismus, dass Menschen observiert werden, die
nichts davon ahnen. Jeffs Leidenschaft wird wiederum von seiner kühlen
blonden Freundin kommentiert. Wohl bemerkt; Grace Kelly als "Hitchcock
Blondine" hat nicht die Funktion eines Playmates. Sie, Lisa, ist Teil
der Lösung dieses Puzzles. Lisa liebt Jeff tief und innig, der aber,
weist sie von sich. Wie könnte es ein Model mit ihm in der Wildnis
aushalten, während er fotografiert? Oder hat Jeff einfach nur Angst vor
Lisa? Immerhin symbolisiert sein Gipsbein, dass Jeff beeinträchtigt ist.
Hitchcock liebt solche männlichen Charaktere; wir erinnern uns an
Scotty, der unter Höhenangst litt... Lisa bedient Jeff von vorn bis
hinten. Der aber liebt es vor allem, seine Nachbarn mit der Kamera zu
beobachten. Seine gesamte Aufmerksamkeit verwendet er darauf, Bilder
zusammen zu setzen, so dass sie einen Fall ergeben. Er ist von dem
besessen, was er aus der Ferne observiert, nicht davon, was er in seinen
Armen halten könnte. Wir müssen uns die Wahl von James Stewart für
diese Rolle vor dem Hintergrund vorstellen, dass Stewart während der
30er Jahre als romantischer Liebhaber berühmt wurde. Hitchcock
modelliert nun Stewarts dunkle Seite - und die war für das Publikum der
50er ganz neu! Jeff ist kein Moralist und auch kein Detektiv. Er liebt
es, andere zu beobachten. Die spannendsten Momente sind die, in denen es
Jeff verwehrt ist, selbst zu agieren. Er ist durch seinen Gips schlicht
nicht in der Lage, einzugreifen. Lisa ans seiner Seite wirkt cool, doch
in wenigen Momenten spüren wir, wie verletzt sie ist. Sie liebt schöne
Kleider und Champagner; Dinge, denen Jeff keinerlei Aufmerksamkeit
schenkt. Lisa beugt sich über ihn, um ihn zu küssen, aber Jeff scheint
überhaupt nicht empfänglich für Lisas Schönheit. Schliesslich müssen wir
erleben, wie sich Lisa anstelle von Jeff in Gefahr begibt. Was auch
immer geschieht, er ist in der Distanz ausserstande, sie zu beschützen.
Er kann sich nicht bewegen. Er (und wir!) sehen die Gefahr voraus und
können nicht eingreifen. Unfähig, zu handeln. Hitchcock hat einmal den
Unterschied zwischen "Surprise" und "Suspense" beschrieben: Explodiert
eine Bombe unverhofft unter dem Tisch, nennt er das "Surprise". In dem
Moment aber, da wir wissen, dass sich eine Bombe unter dem Tisch
befindet, nennt er das "Suspense". "Surprise" kann uns einen kurzen
Moment des Schreckens verschaffen. Rear Window aber bereitet die
"Suspense" durch den gesamten Film hindurch vor. Momente werden
gesammelt, die im Finale den Thriller ergeben. Eine Methode, die 1954
als Unterhaltung konzipiert worden war und von uns heute als "Kunst"
betrachtet wird.,
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