Freitag, 24. Juni 2016

Berliner Videotheken und das Internet

 Stolz führt Graf Haufen durch das Sortiment seines DVD-Verleihs. „Wir sind spezialisiert auf alles“, sagt der 50-Jährige lachend. Mit bürgerlichem Namen heißt er Karsten Rodemann, wird von allen aber nur bei seinem Künstlernamen genannt. Seit 1985 betreibt er das Videodrom im Kreuzberger Bergmannkiez. Während im ersten Raum seines Ladens Neuerscheinungen und Kinderfilme präsentiert werden, warten im hinteren Bereich vor allem Dramen. Manche Regale beherbergen nur französisches oder italienisches Kino. In einem weiteren stehen Ordner mit dem gesamten chronologischen Schaffen deutscher Regisseure, ehe ein wandfüllendes Regal mit allen Werken englischsprachiger Regisseure wie Stanley Kubrik oder Woody Allen den Abschluss bilden. „Wir können eine Komplettheit anbieten, die sonst nicht möglich ist“, sagt Haufen. Seine Programmvideothek besteht damit immer noch auf einem Markt, der zunehmend härter wird. Während vor einigen Jahren vor allem illegal verbreitete Filme im Internet Videothekaren zu schaffen machten, rauben ihnen heute Netflix und Amazon Prime die Kundschaft. In Berlin schloss deshalb erst im vergangenen Jahr die Videothek Negativeland in der Danziger Straße. Sie war der erste Filmverleih, der nach der Wende seine Türen in Ost-Berlin öffnete und ein breites Sortiment jenseits des Mainstreamkinos anbot. Das seit 1984 bestehende Videodrom des Grafen Haufen beherbergt heute rund 32.000 Filme. „Berlins älteste und bestsortierte Programmvideothek“, heißt es auf dem Fahrradständer vor dem Eingang. Doch auch hier machen sich die Folgen des medialen Wandels bemerkbar. „Im Vergleich zu früher haben wir wesentlich weniger Kunden und Verleihvorgänge“, beschreibt Haufen die derzeitige Situation. Geschrumpft sei dadurch auch der finanzielle Spielraum. Noch aber trage sich das Geschäft, betont der Betreiber. Und in manchen Punkten seien sie den Streamingdiensten immer noch voraus, etwa in der Beratung: „Wir leisten eine kuratierende Arbeit, um unsere Kunden durch den Dschungel der Veröffentlichungen zu führen. Das gibt es in der virtuellen Welt nicht.“ Auch glaubt Haufen nicht, dass Netflix und Co. jemals ein so breites und spezialisiertes Angebot haben werden wie gut sortierte Programmvideotheken. „Wenn ein Film im Jahr nur dreimal gestreamt wird, macht es für die keinen Sinn, die Lizenzen zu kaufen. Wenn ich mal einen obskuren Film sehen möchte, werde ich da nicht fündig.“ Beratung und gute Auswahl reichen jedoch längst nicht mehr bei allen Programmvideotheken aus, um den Betrieb finanzieren zu können. Zunehmend entstehen so Mischkonzepte. Zur DVD ein Softeis So etwa in Anne Petersdorffs Videothek „Madeleine und der Seemann“. Seit 2009 betreibt sie das Geschäft im Lichtenberger Kaskelkiez. Alleine vom DVD-Verleih habe sich das Geschäft nie getragen. Stattdessen setzte die 38-Jährige von Beginn an auf eine Mischung verschiedener Konzepte. Im Sommer etwa verkauft der Laden Softeis aus einer alten DDR-Maschine. „Die rettet uns über die Sommermonate hinweg“, sagt sie. Daneben vertreibt sie Wein von einem Händler im Kiez, bietet Second-Hand-Kleidung an und betreibt im Laden einen Paketshop. Darüber hinaus zeigt sie zweimal pro Woche im kleinen Clubkino im Keller für Kunden Filme. Dennoch: „Dieses Gesamtkonzept zusammen trägt den Laden gerade so. Wenn ich nicht die Leidenschaft dafür und die tollen Kunden hätte, wäre der Punkt zum Aufhören längst erreicht.“ Trotzdem glaubt sie an Programmvideotheken. „Sie können überleben – aber nicht alleine. Es müssen Concept-Stores her, wo auch noch andere Dinge angeboten werden.“ Ein weiteres solches Mischkonzept ist die Filmkunstbar Fitzcarraldo in der Reichenberger Straße in Kreuzberg. 2006 als reine Videothek gestartet, besteht das Geschäft seit fünf Jahren und dem Umzug in die Reichenberger Straße in Kreuzberg aus einer Bar im Erdgeschoss und dem DVD-Verleih im Keller. „Im Zuge des Umzugs haben wir gleich gesagt, Videothek alleine ist ein bisschen schwach, da nehmen wir noch Bar und Feierei mit dazu“, sagt Martin Schuffenhauer. Während die Bar besonders am Wochenende oft brechend voll ist, hat das Verleihgeschäft auch hier stark abgenommen. Entsprechend habe sich auch das Verhältnis der Einnahmequellen verschoben. „Früher haben wir uns durch den DVD-Verleih finanziert, heute durch den Alkoholverkauf“, sagt der 43-Jährige. Mittlerweile machten die Einnahmen aus dem Barbetrieb circa 80 Prozent des Umsatzes aus. „Im Grunde genommen ist es eine Bar“, stellt Schuffenhauer nüchtern fest. Früher waren Filme für ihn ein reines Hobby. Jetzt sind sie es quasi wieder. Aber aufgeben will er den Verleih auf keinen Fall: „Ich brauch das einfach.“ (Quelle: Berliner Zeitung http://www.berliner-zeitung.de/berlin/videotheken-amazon-prime--netflix-und-co--machen-berliner-geschaeften-zu-schaffen-24278054 vom 23.6.16) Und wie gehts weiter mit dem Internet? Dazu das Deutschlandradio: Die Filmothek "Filmgalerie Berlin" wirbt auf ihrer Homepage mit einer ganz besonderen Liste: selten ausgeliehene Titel. In Zeiten des Streamings ist dies eine Metapher für das Schicksal der Videotheken - sie könnten bald verschwunden sein. "Rote Lola, einer der ersten Filme, die eine gelogene Rückblende hatten. – Ja, genau. – Das war damals ein Schock. – Hitchcock hat gelogen." Ein Kundengespräch in der Videothek Filmgalerie in Berlin. Dieser Gedankenaustausch ist für Inhaber Silvio Neubauer wichtig, seit 1987 verleiht der ehemalige Architekt Filme. Die Kunden schätzen die Atmosphäre in der Programm-Videothek. Hier treffen sich Filminteressierte und Fachpublikum, wie Regisseurin Verena Freytag, die oft und gerne hierherkommt: "Weil die meisten Filme, die ich gucken will, online nicht erhältlich sind, und weil ich auch gerne spazieren gehe abends, und weil es hier auch immer nett ist, sich zu unterhalten und sich Tipps zu geben." Eine Besonderheit der Filmgalerie ist die Liste der selten ausgeliehenen Filme: Auf Platz 1 steht "Oliver’s Story" von 1978, die Fortsetzung des Schmachtfetzens "Love Story", einem der größten Kinoerfolge aller Zeiten. "Oliver‘s Story" dagegen floppte im Kino, trotzdem ist die Liste keine Ansammlung gescheiterter Filme, im Gegenteil. Darunter sind Kunstwerke wie "Borderline" von 1930 – ein atemberaubend modernes Dreiecksdrama zwischen Weißen und Schwarzen. In gewisser Weise ist es eine Ehrenliste vergessener Filme. Obwohl die Filmgalerie vor einigen Jahren an einen kleineren Standort umziehen musste, wird kein Film aussortiert: "Wir bezeichnen uns ja selbst als Archiv. Da wurden auch Sachen gesammelt, wo man sagt: 'Die sind ja ganz schlecht.' Da sag ich: 'Na und? Wenn jemand meint, er müsste aus irgendwelchen Gründen auch immer aus den Siebzigerjahren Lederhosenfilme anschauen.' Oder wie eine Autorin, die sich mit den Siebzigerjahren befasst hat. Die hat sich dann alle möglichen der wüstesten Produktionen aus Deutschland bei uns ausgeliehen, weil sie sich ein Bild davon machen wollte, von dem, was damals Menschen zu Millionen gesehen haben. Das ist ein Teil der Gesellschaft und der Kultur." Das Schattendasein der Filmhistorie Auf der Liste der selten ausgeliehenen Filme findet man filmhistorische Werke, die sonst nicht mehr zu haben sind, und Überraschungen, wie die amerikanische Komödie "The Wild Life" von 1984. Hier treffen erstaunliche Freizügigkeit, jugendliche Verweigerungshaltung und soziale Problematiken in einer Weise aufeinander, wie es heute im Hollywood-High-School-Film undenkbar wäre. Wie den vergessenen Filmen könnte es bald den Videotheken ergehen – dass sich niemand mehr für sie interessiert. 1980 begann der Boom des Videoverleihs, vor knapp 10 Jahren setzte mit den Online-Stream-Angeboten ein dramatischer Niedergang ein. Von bundesweit über 4000 Videotheken im Jahr 2007 sind heute noch etwas über 1000 übrig. Wobei man in der Branche das illegale Streamen als Problem sieht, nicht die legalen Anbieter: "In einigen Bereichen sind sie sehr stark, eben in diesen Eigenproduktionen und Serien. Aber das Gesamtprogramm ist erstaunlich gering. Wir haben hier 25000 Titel, wenn man die Titel aller Streams zusammennimmt, dann sind das 5, 6, 7 Tausend vielleicht, also ein Bruchteil." So sieht das auch Martin Schuffenhauer von der Filmkunstbar Fitzcarraldo in Berlin-Kreuzberg: "Wenn man mal die üblichen Verdächtigen im Internet, also die legalen Anbieter wie Amazon Prime oder Netflix durchprobiert, dann merkt man zu allererst, dass die nur Scheiße zum Verleihen haben. Und die Videotheken sind nach wie vor die einzigen, die überhaupt eine gute Auswahl bereitstellen, und was wir außerdem noch können, ist Beratung. Ich bin ja kein Algorithmus, mich gibt es in echt." Die Alternative zum Bestellalgorithmus Schuffenhauer glaubt, dass spezialisierte Videotheken überleben werden. Das Fitzcarraldo zum Beispiel ist kombinierte Bar-Videothek, und das Internet sieht er als Ergänzung. Auf der Videothek-Website gibt es redaktionell erarbeitete Filminfos und Links: "Damit man sich auch noch mal eine eigene Meinung bilden kann, verlinke ich halt mit Youtube, entweder zum Trailer oder zum ganzen Film, dann kann man auch reingucken. Wer es in der richtigen Qualität sehen will, der kann ihn ja auf DVD leihen, aber niemand hat so viel Geld, um sich alles anzuschauen. Und von daher finde ich das sinnvoll." Dennoch ist das Geschäftsmodell der Programm-Videotheken gefährdet, letztes Jahr schloss in Berlin das Negativeland. Noch sind einige anspruchsvolle Läden übrig, neben den genannten auch das legendäre Videodrom. Aber wie lange wird es diese Orte noch geben? "In 20 Jahren zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, dass es in der Form noch existiert. Das dann in einem musealen oder anderen Kontext, das würde ich sehr hoffen." Ironischerweise könnte also ausgerechnet die Liste der selten ausgeliehenen Filme dafür sorgen, dass die Videotheken ihre Funktion als Filmarchiv behalten – weil sie nicht ins Relevanzschema von Online-Anbietern passen und über Filme verfügen, die in den Weiten des Internets nicht aufzutreiben sind. (Quelle: http://www.deutschlandradiokultur.de/abseits-des-streamings-warum-wir-filmotheken-weiterhin.2156.de.html?dram%3Aarticle_id=357838 vom 24.6.16)

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