Berliner Videotheken und das Internet
Stolz führt Graf Haufen durch das Sortiment seines DVD-Verleihs. „Wir
sind spezialisiert auf alles“, sagt der 50-Jährige lachend. Mit
bürgerlichem Namen heißt er Karsten Rodemann, wird von allen aber nur
bei seinem Künstlernamen genannt. Seit 1985 betreibt er das Videodrom im
Kreuzberger Bergmannkiez. Während im ersten Raum seines Ladens
Neuerscheinungen und Kinderfilme präsentiert werden, warten im hinteren
Bereich vor allem Dramen. Manche Regale beherbergen nur französisches
oder italienisches Kino. In einem weiteren stehen Ordner mit dem
gesamten chronologischen Schaffen deutscher Regisseure, ehe ein
wandfüllendes Regal mit allen Werken englischsprachiger Regisseure wie
Stanley Kubrik oder Woody Allen den Abschluss bilden. „Wir können eine
Komplettheit anbieten, die sonst nicht möglich ist“, sagt Haufen. Seine
Programmvideothek besteht damit immer noch auf einem Markt, der
zunehmend härter wird. Während vor einigen Jahren vor allem illegal
verbreitete Filme im Internet Videothekaren zu schaffen machten, rauben
ihnen heute Netflix und Amazon Prime die Kundschaft. In Berlin schloss
deshalb erst im vergangenen Jahr die Videothek Negativeland in der
Danziger Straße. Sie war der erste Filmverleih, der nach der Wende seine
Türen in Ost-Berlin öffnete und ein breites Sortiment jenseits des
Mainstreamkinos anbot. Das seit 1984 bestehende Videodrom des Grafen
Haufen beherbergt heute rund 32.000 Filme. „Berlins älteste und
bestsortierte Programmvideothek“, heißt es auf dem Fahrradständer vor
dem Eingang. Doch auch hier machen sich die Folgen des medialen Wandels
bemerkbar. „Im Vergleich zu früher haben wir wesentlich weniger Kunden
und Verleihvorgänge“, beschreibt Haufen die derzeitige Situation.
Geschrumpft sei dadurch auch der finanzielle Spielraum. Noch aber trage
sich das Geschäft, betont der Betreiber. Und in manchen Punkten seien
sie den Streamingdiensten immer noch voraus, etwa in der Beratung: „Wir
leisten eine kuratierende Arbeit, um unsere Kunden durch den Dschungel
der Veröffentlichungen zu führen. Das gibt es in der virtuellen Welt
nicht.“ Auch glaubt Haufen nicht, dass Netflix und Co. jemals ein so
breites und spezialisiertes Angebot haben werden wie gut sortierte
Programmvideotheken. „Wenn ein Film im Jahr nur dreimal gestreamt wird,
macht es für die keinen Sinn, die Lizenzen zu kaufen. Wenn ich mal einen
obskuren Film sehen möchte, werde ich da nicht fündig.“
Beratung und gute Auswahl reichen jedoch längst nicht mehr bei allen
Programmvideotheken aus, um den Betrieb finanzieren zu können. Zunehmend
entstehen so Mischkonzepte. Zur DVD ein Softeis
So etwa in Anne Petersdorffs Videothek „Madeleine und der Seemann“. Seit
2009 betreibt sie das Geschäft im Lichtenberger Kaskelkiez. Alleine vom
DVD-Verleih habe sich das Geschäft nie getragen. Stattdessen setzte die
38-Jährige von Beginn an auf eine Mischung verschiedener Konzepte. Im
Sommer etwa verkauft der Laden Softeis aus einer alten DDR-Maschine.
„Die rettet uns über die Sommermonate hinweg“, sagt sie. Daneben
vertreibt sie Wein von einem Händler im Kiez, bietet
Second-Hand-Kleidung an und betreibt im Laden einen Paketshop. Darüber
hinaus zeigt sie zweimal pro Woche im kleinen Clubkino im Keller für
Kunden Filme. Dennoch: „Dieses Gesamtkonzept zusammen trägt den Laden
gerade so. Wenn ich nicht die Leidenschaft dafür und die tollen Kunden
hätte, wäre der Punkt zum Aufhören längst erreicht.“ Trotzdem glaubt sie
an Programmvideotheken. „Sie können überleben – aber nicht alleine. Es
müssen Concept-Stores her, wo auch noch andere Dinge angeboten werden.“
Ein weiteres solches Mischkonzept ist die Filmkunstbar Fitzcarraldo in
der Reichenberger Straße in Kreuzberg. 2006 als reine Videothek
gestartet, besteht das Geschäft seit fünf Jahren und dem Umzug in die
Reichenberger Straße in Kreuzberg aus einer Bar im Erdgeschoss und dem
DVD-Verleih im Keller. „Im Zuge des Umzugs haben wir gleich gesagt,
Videothek alleine ist ein bisschen schwach, da nehmen wir noch Bar und
Feierei mit dazu“, sagt Martin Schuffenhauer. Während die Bar besonders
am Wochenende oft brechend voll ist, hat das Verleihgeschäft auch hier
stark abgenommen. Entsprechend habe sich auch das Verhältnis der
Einnahmequellen verschoben. „Früher haben wir uns durch den DVD-Verleih
finanziert, heute durch den Alkoholverkauf“, sagt der 43-Jährige.
Mittlerweile machten die Einnahmen aus dem Barbetrieb circa 80 Prozent
des Umsatzes aus. „Im Grunde genommen ist es eine Bar“, stellt
Schuffenhauer nüchtern fest. Früher waren Filme für ihn ein reines
Hobby. Jetzt sind sie es quasi wieder. Aber aufgeben will er den Verleih
auf keinen Fall: „Ich brauch das einfach.“ (Quelle: Berliner Zeitung
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/videotheken-amazon-prime--netflix-und-co--machen-berliner-geschaeften-zu-schaffen-24278054
vom 23.6.16) Und wie gehts weiter mit dem Internet? Dazu das
Deutschlandradio: Die Filmothek "Filmgalerie Berlin" wirbt auf ihrer
Homepage mit einer ganz besonderen Liste: selten ausgeliehene Titel. In
Zeiten des Streamings ist dies eine Metapher für das Schicksal der
Videotheken - sie könnten bald verschwunden sein.
"Rote Lola, einer der ersten Filme, die eine gelogene Rückblende hatten.
– Ja, genau. – Das war damals ein Schock. – Hitchcock hat gelogen."
Ein Kundengespräch in der Videothek Filmgalerie in Berlin. Dieser
Gedankenaustausch ist für Inhaber Silvio Neubauer wichtig, seit 1987
verleiht der ehemalige Architekt Filme. Die Kunden schätzen die
Atmosphäre in der Programm-Videothek. Hier treffen sich
Filminteressierte und Fachpublikum, wie Regisseurin Verena Freytag, die
oft und gerne hierherkommt: "Weil die meisten Filme, die ich gucken
will, online nicht erhältlich sind, und weil ich auch gerne spazieren
gehe abends, und weil es hier auch immer nett ist, sich zu unterhalten
und sich Tipps zu geben."
Eine Besonderheit der Filmgalerie ist die Liste der selten ausgeliehenen
Filme: Auf Platz 1 steht "Oliver’s Story" von 1978, die Fortsetzung des
Schmachtfetzens "Love Story", einem der größten Kinoerfolge aller
Zeiten. "Oliver‘s Story" dagegen floppte im Kino, trotzdem ist die Liste
keine Ansammlung gescheiterter Filme, im Gegenteil. Darunter sind
Kunstwerke wie "Borderline" von 1930 – ein atemberaubend modernes
Dreiecksdrama zwischen Weißen und Schwarzen. In gewisser Weise ist es
eine Ehrenliste vergessener Filme. Obwohl die Filmgalerie vor einigen
Jahren an einen kleineren Standort umziehen musste, wird kein Film
aussortiert:
"Wir bezeichnen uns ja selbst als Archiv. Da wurden auch Sachen
gesammelt, wo man sagt: 'Die sind ja ganz schlecht.' Da sag ich: 'Na
und? Wenn jemand meint, er müsste aus irgendwelchen Gründen auch immer
aus den Siebzigerjahren Lederhosenfilme anschauen.' Oder wie eine
Autorin, die sich mit den Siebzigerjahren befasst hat. Die hat sich dann
alle möglichen der wüstesten Produktionen aus Deutschland bei uns
ausgeliehen, weil sie sich ein Bild davon machen wollte, von dem, was
damals Menschen zu Millionen gesehen haben. Das ist ein Teil der
Gesellschaft und der Kultur."
Das Schattendasein der Filmhistorie
Auf der Liste der selten ausgeliehenen Filme findet man filmhistorische
Werke, die sonst nicht mehr zu haben sind, und Überraschungen, wie die
amerikanische Komödie "The Wild Life" von 1984. Hier treffen
erstaunliche Freizügigkeit, jugendliche Verweigerungshaltung und soziale
Problematiken in einer Weise aufeinander, wie es heute im
Hollywood-High-School-Film undenkbar wäre. Wie den vergessenen Filmen
könnte es bald den Videotheken ergehen – dass sich niemand mehr für sie
interessiert. 1980 begann der Boom des Videoverleihs, vor knapp 10
Jahren setzte mit den Online-Stream-Angeboten ein dramatischer
Niedergang ein. Von bundesweit über 4000 Videotheken im Jahr 2007 sind
heute noch etwas über 1000 übrig. Wobei man in der Branche das illegale
Streamen als Problem sieht, nicht die legalen Anbieter:
"In einigen Bereichen sind sie sehr stark, eben in diesen
Eigenproduktionen und Serien. Aber das Gesamtprogramm ist erstaunlich
gering. Wir haben hier 25000 Titel, wenn man die Titel aller Streams
zusammennimmt, dann sind das 5, 6, 7 Tausend vielleicht, also ein
Bruchteil."
So sieht das auch Martin Schuffenhauer von der Filmkunstbar Fitzcarraldo
in Berlin-Kreuzberg:
"Wenn man mal die üblichen Verdächtigen im Internet, also die legalen
Anbieter wie Amazon Prime oder Netflix durchprobiert, dann merkt man zu
allererst, dass die nur Scheiße zum Verleihen haben. Und die Videotheken
sind nach wie vor die einzigen, die überhaupt eine gute Auswahl
bereitstellen, und was wir außerdem noch können, ist Beratung. Ich bin
ja kein Algorithmus, mich gibt es in echt."
Die Alternative zum Bestellalgorithmus
Schuffenhauer glaubt, dass spezialisierte Videotheken überleben werden.
Das Fitzcarraldo zum Beispiel ist kombinierte Bar-Videothek, und das
Internet sieht er als Ergänzung. Auf der Videothek-Website gibt es
redaktionell erarbeitete Filminfos und Links:
"Damit man sich auch noch mal eine eigene Meinung bilden kann, verlinke
ich halt mit Youtube, entweder zum Trailer oder zum ganzen Film, dann
kann man auch reingucken. Wer es in der richtigen Qualität sehen will,
der kann ihn ja auf DVD leihen, aber niemand hat so viel Geld, um sich
alles anzuschauen. Und von daher finde ich das sinnvoll."
Dennoch ist das Geschäftsmodell der Programm-Videotheken gefährdet,
letztes Jahr schloss in Berlin das Negativeland. Noch sind einige
anspruchsvolle Läden übrig, neben den genannten auch das legendäre
Videodrom. Aber wie lange wird es diese Orte noch geben?
"In 20 Jahren zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, dass es in
der Form noch existiert. Das dann in einem musealen oder anderen
Kontext, das würde ich sehr hoffen."
Ironischerweise könnte also ausgerechnet die Liste der selten
ausgeliehenen Filme dafür sorgen, dass die Videotheken ihre Funktion als
Filmarchiv behalten – weil sie nicht ins Relevanzschema von
Online-Anbietern passen und über Filme verfügen, die in den Weiten des
Internets nicht aufzutreiben sind. (Quelle:
http://www.deutschlandradiokultur.de/abseits-des-streamings-warum-wir-filmotheken-weiterhin.2156.de.html?dram%3Aarticle_id=357838
vom 24.6.16)
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