Our Daily Free Stream: Starbuck Holger Meins
Gerd Conradt hat mit Holger Meins 1966 in Berlin studiert. Meins war
Filmemacher, der wegen seiner politischen Haltung von der akademie
ausgeschlossen wurde. Er schloss sich der RAF an, radikalisierte sich.
Man inhaftierte ihn, verurteilte ihn mit Meinhoff, Baader und Ensslin.
1974 starb er in seiner Zelle, nach einem Hungerstreik auf 39 Kilo
abgemagert. Hier ein Interview aus der Zeitung "Der Freitag": FREITAG:
Sie bezeichnen Ihren Film als "Spurensuche". Können Sie etwas über die
Anfänge dieser Suche erzählen, die ihr zugrundeliegenden Motive?
GERD CONRADT: Das Prinzip des Films ist es, dass ich mich immer auf
Bilddokumente beziehe und diese vorstelle. Ich möchte, dass der
Zuschauer mitschaut. Ich will ihm die Möglichkeit geben, selber
hinzusehen und sich ein Urteil zu bilden. Mir ging es um eine
Spurensuche, die sich ausschließlich vorhandener Dokumente bedient. Es
gibt von Holger Meins viele Spuren und Bilder, zum Beispiel von seiner
Festnahme und der Beerdigung, die jeden Dokumentaristen reizen müssten.
Wer war das eigentlich, der da schreiend und nur mit einer Unterhose
bekleidet abgeführt wurde? Hinter dem Erzählen anhand von Bildern steckt
ein bestimmtes Konzept. Ich bin der Meinung, dass das gemeinsame
Betrachten von Bildern einen anderen demokratischen Umgang mit
Geschichte und Politik ermöglichen. Bilder bieten ein Korrektiv, sie
sind resistent gegen vermeintliche Gewissheiten und konträre
Behauptungen. Sie bieten die Möglichkeit des Innehaltens und Schauens.
Ihre Dokumentation ist dem Vater Wilhelm Meins gewidmet, und seine
Szenen gehören zu den stärksten im gesamten Film. Wie kam es zur
Zusammenarbeit?
Ich bin 1974 zu Holgers Beerdigung nach Hamburg gefahren, und fühlte
mich dort eher als Angehöriger und nicht als Mitglied irgendeiner roten
Zelle. Ich habe mich zu der Familie gestellt und dadurch den Vater
kennen gelernt. Er hat mich gefragt, ob ich ihn nicht mal besuchen
wolle, und schon Weihnachten bin ich dann nach Hamburg gefahren. Er hat
mir die Bude von Holger gezeigt, die bis unter die Decke angefüllt war
mit Bildern und künstlerischen Arbeiten aus seiner Studienzeit. Das hat
mich umgehauen, Holger hatte nie davon erzählt. Als wir uns an der DFFB
kennen lernten, war für ihn nur die Gegenwart interessant. Er
vermittelte den Eindruck, dass alles Zurückliegende für ihn nicht
wichtig war. Er konzentrierte sich voll aufs Filmemachen. Ich habe
Wilhelm Meins insgesamt dreimal besucht, und beim zweiten Mal habe ich
mein Video-Equipment mitgebracht. Er erklärte sich einverstanden damit,
in die Kamera zu erzählen, aber es war damals noch gar nicht klar, wofür
das Material eigentlich sein soll. Das war 1975, zu einer sehr
polarisierten Zeit, wo bei der Beschäftigung mit der RAF immer gleich
die Frage aufkam, ob man Unterstützer oder Gegner war. Eine vermittelnde
oder radikal andere Sichtweise war damals nicht möglich. Das Material
blieb dann erst mal liegen. 1979 bin ich dann noch mal zu ihm gefahren,
um von ihm die Zustimmung zu einer öffentlichen Verwendbarkeit des
Materials zu bekommen. Ich habe ihn dabei gefilmt, wie er sich die
Szenen ansieht und kommentiert. Für mich war das eine intensive
Begegnung. Es gab beim Vater ein großes Bedürfnis, etwas über seinen
Sohn zu erfahren. Seit dem Beginn seines Studiums in Berlin hatte sich
Holger bei seiner Familie ziemlich rar gemacht. Der Vater bat mich, alle
Filme und Bilder von Holger mitzubringen. Er wollte alles aus seiner
Studienzeit erfahren. Ich war sehr überrascht, einem so warmen und
intensiven Mann zu begegnen. Er entsprach überhaupt nicht dem Bild, das
ich mir aufgrund von Holgers Erzählungen von ihm gemacht hatte. Er hat
sich immer hundertprozentig hinter seinen Sohn gestellt. Auch wenn
Holger verurteilt worden wäre, hätte Wilhelm Meins seinen Sohn nicht
abgeschrieben.
Wie reagierten andere Gesprächspartner, vor allem aus dem Umkreis der
RAF, auf Ihr Vorhaben?
Die Leute aus der RAF und ihrem Umkreis reagierten auf sehr
unterschiedliche Weisen. Mehr noch als andere Menschen sind sie sehr
durch ihre Geschichte geprägt. Margrit Schiller, die einen Weg gefunden
hat, mit ihrem Leben und ihrer Geschichte umzugehen, erzählte relativ
freimütig. Allerdings auch nur über das, was weder sie noch andere
belastet. Darauf achten sie natürlich alle sehr genau, was kann ich
sagen, und was nicht? Womit kann ich belangt werden? Ich habe mich für
Margrit Schiller als Gesprächspartnerin entschieden, weil sie eine
Liebesbeziehung zu Holger hatte, von der sie in ihrem Buch geschrieben
hat. Ich habe das Interview mit den Zitaten aus dem Buch begonnen.
Solche Spuren waren immer der Ausgangspunkt, wenn ich mit jemandem
Kontakt aufgenommen habe. Die meisten RAFler der ersten Generation sind
tot, bei anderen, wie Horst Mahler, fehlte mir der Beleg, die zu Holger
Meins führende Spur. Außerdem waren seine Erinnerungen zu vage. Bei
dieser Generation habe ich eher eine Verhärtung gespürt, ein
Sich-Abkapseln. Sie haben sich nach außen hin arrangiert, mit Wohnung,
Familie und Arbeit, aber diese Geschichte ist nach wie vor nicht
verarbeitet. Sie führen ein Art Doppelleben. Man trifft da auf sehr
widersprüchliche Haltungen. Von "Die Kalaschnikow habe ich immer noch im
Bett" bis "Wir hatten Recht". In Hamburg gibt es noch eine relativ
starke RAF-Fraktion, mit der Haltung: "Wir haben es richtig gemacht."
Ich habe Irmgard Möller 1 1/2 Jahre in Stammheim besucht. Wir haben uns
dann aber zerstritten, weil ich da nicht hingefahren bin, um
RAF-Mitglied zu werden, sondern mehr aus einer alten Solidarität heraus.
Was sie behaupten, finde ich fachlich nicht qualifiziert, und ich habe
sie dann auch angegriffen. Ich finde, die sollen erst mal in ihrem
eigenen Haus kehren. Sie sollen Stellung nehmen zu den Dingen, die sie
gemacht oder vielleicht auch gerade nicht gemacht haben. Es ist ja bis
heute nicht erwiesen, wer Herrhausen und Rohwedder umgebracht hat. Wenn
die RAF einen Mann wie Herrhausen umgebracht hat, sollten sie ihre
Motive erklären. Aber es gibt ja unglaublich viele Anhaltspunkte, dass
die RAF dafür nur benutzt wurde oder unterlaufen war. Ich finde, sie
sollten an der Aufklärung dieser Dinge mitarbeiten, offensiver mit ihrer
eigenen Geschichte umgehen. Wenn sie etwas zu sagen haben, dann sollen
sie es offensiv machen, und nicht immer unter dem Deckmantel des
Märtyrertums, von wegen, wir haben ja so gelitten und haben es ja auch
für euch alle gemacht. Wir sind ja eigentlich die wirklichen
Revolutionäre, wir wurden geknechtet, wir haben 20 Jahre gesessen,
während ihr Karriere gemacht habt.
Welche Spuren hat Holger Meins bei Ihnen persönlich hinterlassen?
Kennen gelernt habe ich ihn 1966, wie auch 34 andere, die sozusagen wie
Auserwählte in einem Raum der neu gegründeten DFFB saßen. Warum wir es
geschafft hatten, wussten wir eigentlich alle nicht so genau. Wir
mussten uns dann in Regieklassen aufteilen. Da standen also fünf oder
sechs Lehrer, und wir konnten uns selbst überlegen, wem wir uns
zugehörig fühlten. Sowohl Holger als auch ich und Hartmut Bitomsky, Skip
Norman und ich glaube auch Helge Sander-Brahms saßen dann irgendwann
bei Peter Lilienthal. Unsere Aufgabe im ersten Jahr war es, mit einem
bestimmten Budget einen Erstlingsfilm zu drehen, anhand dessen dann
entschieden werden sollte, ob man weiterstudieren dürfe. Holger hatte
schon praktische Erfahrung und war schnell derjenige, der immer gefragt
wurde. Das war mein erster Eindruck von ihm, ein Mensch mit viel
Erfahrung, von dem ich viel lernen kann. Mich faszinierte sein hohes
handwerkliches Geschick. Er hatte eine große Ausdauer, technische
Probleme zu lösen, sich Fertigkeiten anzueignen. Er war auch sehr
sozial. Er hat für alle gekocht und hatte ein gelassenes Verhältnis zu
Transportmitteln, nach dem Motto, mein Auto ist auch dein Auto. Das war
damals etwas Neues für mich. Ich vermute, das hatte viel mit seiner Zeit
bei den Pfadfindern zu tun. Holger war jemand, der sein Leben lang nach
Konzepten gesucht hat. Zuerst war es die Religion, dann die
Lebensgemeinschaft der Pfadfinder. Es folgten die Kunst, der Film, dann
die Studentenbewegung, die RAF. Das sind alles Konzepte. Der andere
wichtige Pol ist sein Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein. Wenn er an
einem Film mitarbeitete, wäre er immer am liebsten zu den Filmemachern
gezogen und hätte bei ihnen bis zur Fertigstellung gewohnt. Er wollte
immer alles mit allen teilen. Vielleicht auch die Frau.
Wie kam es schließlich zum Bruch zwischen Holger Meins und Ihnen?
Wir arbeiteten damals beide für Peter Paul Zahls Zeitschrift "883",
allerdings aus unterschiedlichen Motiven. Für mich stand im Vordergrund,
etwas Kreatives zu tun, der anarchische Sponti-Aspekt daran gefiel mir.
Holger hingegen tendierte damals schon eher in Richtung militante
Aktion. Das war die Zeit, als aus seinem Auto eine Rohrbombe auf eine
Funkstreife geworfen wurde, und sie haben ihn als den Halter
festgenommen. Er hat dann sechs Wochen gesessen, das hat ihn sehr
verändert. Er begann, sich aus den alten Beziehungen zurückzuziehen. Zu
der Zeit hatten sich eine Reihe militanter Organisationen gebildet, die
Haschrebellen, die Bewegung 2. Juni, die Militanten Panther-Tanten.
Eines Tages habe ich ihm eine Wohnung zur Verfügung gestellt, weil er
keine hatte. Später stellte sich heraus, dass dort die ganzen
Anwerbegespräche der RAF stattfanden und er dort überhaupt nicht gewohnt
hatte. Ich hatte dann wegen § 129a, Unterstützung krimineller
Vereinigungen, ein Verfahren gegen mich laufen. Ich bin ein halbes Jahr
observiert worden, inklusive Postkontrolle und Abhören des Telefons.
Holger war damals kaum noch zu sehen, doch eines Tages rief er mich an,
um sich mit mir auszusprechen. Das war unser Abschied, bei dem es auch
um Lebensfragen ging. Wie lebe ich eigentlich? Welche Utopie will ich
leben, und was tue ich zu ihrer Verwirklichung? Das war die Zeit, als
die chinesischen Kommunen hoch im Kurs standen. Die Revolution erschien
damals möglich, und Holger wollte sie machen. Die Frage, an der wir uns
damals rieben, ist auch heute wieder aktuell, nämlich ob es so etwas wie
einen "gerechten Krieg" gibt. Es gab damals zwei Parolen: "Dem Volke
dienen" und "Sieg im Volkskrieg". Holger war für die zweite, militante
Parole Feuer und Flamme. Ich hatte meine Zweifel und glaubte nicht
daran. Ich konnte und kann mir einen gerechten Krieg nicht vorstellen.
Das hat wohl auch etwas damit zu tun, dass ich aus der DDR gekommen bin.
Wir wurden in der Schule indoktriniert mit den riesigen Erfolgen der
UdSSR und Chinas, jedenfalls vor dem offiziellen Bruch. Einmal die Woche
mussten wir uns Filme ansehen, bei denen es um Partisanen und
Freiheitskämpfer ging; Fahnen wehten und der große Mao grüßte das Volk.
Das hat mich schon damals skeptisch gemacht. Als Holger Ulrike Meinhof
und Andreas Baader begegnete, hatten sie schon ihre
Kaufhausbrandstiftungen begangen, hatten gesessen und bestimmte
militante Erfahrungen in Palästina gemacht. Und was ihn vor allem
faszinierte: Sie hatten ein Konzept, das seiner Vorstellung einer
Stadtguerilla sehr nahe kam. Wir greifen an. Wir machen Banküberfälle.
Wir klauen uns die Autos. Die hatten die Absolutheit, nach der er
suchte. Und sie fanden in ihm jemandem mit entsprechenden Fähigkeiten.
Welche Rolle spielte Holger Meins bei der RAF?
Ich habe erst vor kurzem nachvollzogen, was es mit seinem Decknamen
"Starbuck" auf sich hat, als ich den Roman Moby Dick las. Der Name ist
nicht schlecht gewählt. Ich bin der Meinung, dass er schon ein
Befehlsempfänger war, nicht derjenige, der die Richtung vorgibt. Aber er
hat es nicht widerspruchsfrei gemacht. Er hat nicht die grundlegenden
Ideen angezweifelt, wohl aber Vorschläge zu ihrer Realisierung gemacht
und dadurch ganz wesentlich auf die Gruppe eingewirkt. Darin bestand
seine Autorität und auch Freiheit. Aber das sind Spekulationen, ich habe
ihn nie wieder gesehen, nie wieder etwas von ihm gehört.
Das Gespräch führte Volker Hummel (Quelle:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/man-trifft-auf-sehr-widerspruchliche-haltungen)
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